Cover
Titel
A Million Pictures. Magic Lantern Slides in the History of Learning


Herausgeber
Dellmann, Sarah; Kessler; Frank
Reihe
KINtop Studies in Early Cinema (6)
Erschienen
New Barnet, Herts 2020: John Libbey Publishing
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
$ 32.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maria Männig, Institut für Kunstwissenschaft und Bildende Kunst, Universität Koblenz-Landau

Mit A Million Pictures war ein auf drei Jahre angelegtes internationales Forschungsprojekt überschrieben, dessen erklärtes Ziel es war, die Relevanz der Laterna magica erstmals umfassend für die Bildungsgeschichte zu thematisieren.1 Der Titel des Sammelbandes adressiert die schiere Masse an überlieferten historischen, gemalten wie fotografischen Laternenbildern. Der Abundanz des Materials steht ein Defizit hinsichtlich des Wissens gegenüber, insbesondere was die Methodik wissenschaftlich-theoretischer Erschließung dieser Bestände betrifft. Ziel des Zusammenschlusses aus Forschungsgruppen in Antwerpen, Exeter, Girona, Utrecht und Salamanca war es daher, diesem Problem auf verschiedenen Ebenen abzuhelfen. Der Band dokumentiert einen Schlusspunkt dieser Bemühungen auf einer internationalen Konferenz, die 2017 stattgefunden hat, und an der auch Vortragende jenseits des Verbundes teilnahmen.2

Wie im Laufe der Konferenz deutlich wurde und wie die Herausgeber:innen – Sarah Dellmann und Frank Kessler – herausstreichen, fristet die Laterna-magica-Forschung nach wie vor ein Schattendasein: Trotz zahlreicher Anknüpfungspunkte an so vielfältige wie heterogene Disziplinen wie Medien- und Wissenschaftsgeschichte oder den Visual (Culture) Studies, scheint eben jene Anschlussfähigkeit die Forschungsbemühungen zu unterlaufen. Als besonders problematisch gilt das Verhältnis zur Kinogeschichte; so wurde die Laterna magica lange Zeit unter dem Topos der Kino-Archäologie oder des Pre-Cinema abgehandelt und größtenteils von der Filmwissenschaft verdeckt.3 Wie Frank Kessler zusammenfasst (vgl. S. 16), eignet dem Medium selbst eine gewisse Prekarität, konstituiert es sich doch erst im performativen Akt des Aufführungsereignisses und unterliegt damit, anders als etwa das Produkt Film, starken Variationen.

Der Band versammelt daher Strategien, mit denen diese Hindernisse überbrückt werden sollen – das vorgeschlagene Methodenspektrum reicht dabei von der reinen theoretischen Auseinandersetzung über kulturwissenschaftliche Ansätze bis hin zu objekt- beziehungsweise materialorientierten und empirischen Versuchen. Ein grundlegendes Verständnis der Relikte historischer Laterna-magica-Praxis als kulturelles Erbe, das mithin Möglichkeiten der kreativen Aneignung, der musealen Präsentation einschließt, vereint die Beiträge. Das integriert auch jene Zugänge, die sich dem Reenactment historischer Aufführungen widmen – wie sie vor allem in der Anglosphäre von den Magic Lantern Societies beziehungsweise ihren aktiven Mitgliedern vertreten und praktiziert werden. Abseits der von den Herausgeber:innen präsentierten Binnengliederung möchte ich anhand dreier Aspekte die wesentliche Schlagrichtung des vorliegenden Sammelbandes erörtern.

Was die theoretisch-methodische Grundlegung anbelangt, so fasst Frank Kessler die Laterna-magica-Aufführung in seinem Beitrag unter dem Begriff des Dispositivs, den er auf Grundlage eines bereits etablierten, im weitesten Sinne am Semiotischen Dreieck orientierten Modells fruchtbar macht.4 Um dieses zu erweitern, implementiert Kessler den durch den französischen Medienwissenschaftler Roger Odin vertretenen semiopragmatischen Ansatz, der ein sowohl auf den konkreten Aufführungskontext als auch auf die Rolle der Rezipient:innen bezogenes Lektüremodell bietet.5 Das Konzept verspricht, den verschiedenartigen Zusammenhängen der historischen Projektionspraxis gerecht zu werden. Den entgegengesetzten theoretischen Pol bildet der von Erkki Huhtamo im Band vertretene medienarchäologischer Ansatz, der die Screenology, also die Geschichte des Screens beziehungsweise der Projektionsfläche ins Zentrum der Analyse stellt; diese auf einer breiten Materialbasis verfolgt und zeigt, dass die Fokussierung auf den Screen eine Option für die Laterna-magica-Forschung darstellt (vgl. S. 277–304). Joseph Wachelders Text mündet in der durchaus fundierten Überlegung, Tom Gunnings Konzept des „cinema of attractions“6 zeitlich weiter ins 19. Jahrhundert und vor allem hinsichtlich der Laterna magica auszuweiten (vgl. S. 162).

Analog zum Frühen Kino, das sich laut Gunning durchaus in einer Ansammlung opulent inszenierter audiovisueller Ereignisse manifestiert, spielt Farbe auch in der Geschichte der Lichtbildprojektion eine wesentliche Rolle: dies reicht von gemalten Exemplaren über fotografische, handkolorierte Diapositive bis hin zur Implementierung der Farbfotografie. Dem Thema Farbe widmen sich mehrere Beiträge: Màrcia Vilarigues und Vanessa Otero beleuchten in ihrem Beitrag die innovative Rolle der Firma Winsor & Newton, die diese bei der Herstellung von Farbkuchen, insbesondere für die Aquarellmalerei spielte; in der Folge wurde diese Kompetenz 1863 hinsichtlich eines spezifischen Sortiments für die Glasmalerei erweitert. Die industrielle Konfektionierung der Materialien führte zu einer charakteristischen Ästhetik, die beispielsweise in dem Beitrag von Anna Grasskamp, Wing Ki Lee und Suk Mei Irene Wong in einer der wenigen tiefergreifenden visuellen Analysen betrachtet wird. Dies geschieht exemplarisch anhand eines Objekts, das um 1902–1905 zu datieren ist und vier Kinder beim Flechten des chinesischen Zopfes zeigt. Nadezhda Stanulevich stellt die Arbeit von Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski vor, einem russischen Fotopionier, der die Dreifarbenfotografie weiterentwickelte. Hier wird eine fotografische Aufnahme dreifach durch Farbfilter angefertigt. Basierend hierauf erstellte Prokudin-Gorski ab 1913 Diapositive im Dreifarbendruck, die sowohl die Ästhetik als auch das Funktionsprinzip von Technicolor bereits vorwegnahmen.

Der explizite Zuschnitt auf die Bildung richtet den thematischen Fokus begrüßenswerter Weise auf fotografische Laternbilder – und damit die frühe Diapositivfotografie. Der Band präsentiert die Diversität der Anwendungsbereiche und Praktiken. So spielte der Lichtbildvortrag in den Gelehrtengesellschaften eine eminente Rolle. Emily Hayes betrachtet etwa die 1830 gegründete Royal Geographical Society als prominentestes Beispiel. Die illustrierten Vorträge stellten für die Gesellschaft zunächst ein höchst umstrittenes Instrument dar, das sich trotzdem als Medium der Wissenschaftskommunikation etablieren sollte. Die British Association for the Advancement of Science, die Jennifer Tucker in den Mittelpunkt ihres Beitrags stellt, war in ihrer Anlage hingegen explizit auf die Wissenspopularisierung hin ausgerichtet und fungierte gar als Distributor für Diapositive sowie für komplette Vorträge. Richard Crangle skizziert die Aktivitäten der Manchester Geographical Society, die ihr Vortragsprogramm aus gezielten Ankäufen sowie aus den fotografischen Ergebnissen ihrer Mitglieder generierte. Im Royal Albert Memorial Museum in Exeter, das Crangle als zweites Fallbeispiel dient, initiierte der Kurator, Frederick R. Rowley, eine rege Vortragstätigkeit, die sich ab 1903 über drei Jahrzehnte erstrecken sollte und das breite thematische Spektrum der Institution nach außen abbildete und vermittelte.

Der vorliegende Band füllt eine Leerstelle, insbesondere was den Lichtbildgebrauch im Bildungskontext betrifft und eröffnet ein ganzes Panorama an Fallstudien, das die Leser:innen für die Diversität und Heterogenität dieser Praktiken sensibilisiert. Bei aller Breite und trotz des exemplarischen Charakters der Studien treten jedoch allgemeinere Tendenzen deutlich hervor, die insbesondere die Popularisierung von Wissen(schaft) betreffen. Diese Popularisierung – auch das wird deutlich, obwohl das Feld der Universitäten nicht konkret betrachtet wird – korreliert mit der akademischen Institutionalisierung und Professionalisierung zahlreicher Fachdisziplinen, etwa der Geografie. Ebenfalls aufschlussreich ist die Dominanz des Visuellen, die den Diskurs um die Bildungsdebatten im 19. Jahrhundert prägte. Die Projektionskunst wurde zum entscheidenden Medium, mit dem sich in der Vorstellung der Zeitgenossen die didaktischen Ziele verwirklichen ließen.

Anmerkungen:
1 Das Projekt lief von 2015 bis 2018; siehe die Website: <https://a-million-pictures.wp.hum.uu.nl> (24.01.2021).
2 Vgl. zum Tagungsprogramm: <https://a-million-pictures.wp.hum.uu.nl/conference/programme/> (24.01.2021).
3 Ein Abriss der Forschungsgeschichte zur Kino-Archäologie im deutsch- und englischsprachigen Raum findet sich bei: Jens Ruchatz, Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte fotografischer Projektion, München 2003, S. 11–13.
4 Robert S. Nelson, The Slide Lecture, or The Work of Art „History“ in the Age of Mechanical Reproduction, in: Critical Inquiry 26 (2000), S. 414–434; Ludwig Vogl-Bienek, Lichtspiele im Schatten der Armut. Historische Projektionskunst und soziale Frage, Frankfurt am Main 2016; vgl. dazu die Sammelrezension von Sarah Dellmann, in: H-Soz-Kult, 13.12.2018, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27377> (24.01.2021).
5 Roger Odin, Kommunikationsräume. Einführung in die Semiopragmatik, Berlin 2019.
6 Tom Gunning, The Cinema of Attraction[s]. Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde, in: Wanda Strauven (Hrsg.), The Cinema of Attractions Reloaded, Amsterdam 2006, S. 381–388. Die mehrfach überarbeitete Originalpublikation wurde 1986 veröffentlicht.

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